Krieg und Frieden

Wie so oft bringt mich die Welt in den letzten Wochen dazu, mir eingestehen zu müssen, dass ich mehr Fragen als Antworten habe … Ich schaue mir meine Wünsche und Hoffnungen an, spüre in mir nach, was ich meinen Kindern mit auf den Weg geben möchte, was ich mit Menschen (und anderen Wesen), die ich liebe, teilen mag  – und gehe unbewusst davon aus, dass die meisten Menschen ähnlich denken und fühlen, dass die meisten Menschen schlicht in Sicherheit, Freiheit und Frieden leben wollen, um Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten zu haben, die sie das Leben in seiner ganzen Fülle erfahren lassen.

 

Doch dann schalte ich die Nachrichten ein, lese Zeitung … und mir wird der Unterschied bewusst, der tiefe Graben, der mich von der Welt derer trennt, die die Macht in ihren Händen halten. Haben die nicht die gleichen Wünsche und Hoffnungen? Haben die niemanden, dem sie wünschen, sein Leben möge friedlich und inspirierend verlaufen, sodass das Menschliche sich in seiner besten Form zeigen kann? Keine Familie, keine Freunde, keine Liebe? Gibt es wirklich eine Art der Verrücktheit (also des aus der Realität Herausgerücktseins), die für all das Genannte keinen Sinn hat? Und gibt es eine Verrücktheit, die solche Leute in Führungspositionen hievt und dabei denkt, dass es schon gutgehen wird? Und welche Form der Verrücktheit lässt uns glauben, dass wir daran keinen Anteil haben und dass alle Probleme von heute auf morgen vom Himmel fallen und uns ohne unser Zutun vor die Füße klatschen? 

 

Mein Eindruck ist nicht, dass die Welt plötzlich verrückt geworden ist, wie man es immer wieder hört oder liest. Ich denke, dass die Welt schon immer verrückt war, weil wir Menschen uns oft weigern, tatsächlich erwachsen zu werden und wirkliche Verantwortung zu übernehmen. Nicht umsonst hat der Buddha schon vor 2.500 Jahren festgestellt, dass die Grundprobleme der Menschen in Gier, Hass und Verblendung gegründet sind. Hat sich daran irgendetwas geändert? Habe ich etwas verpasst? 

Auch wenn ich viele politische Entwicklungen nicht hundertprozentig durchschaue, bin ich mir doch recht sicher, dass diese drei Grundprobleme nach wie vor am Entstehungsprozess nahezu jeden Problems beteiligt sind. 

Ich versuche zu unterscheiden, was Wahrheit und was Propaganda ist, doch der Filz, der in allem zu stecken scheint, ist so dicht, die Motivation mancher Berichterstattung so fragwürdig, dass es mir oft nicht gelingt, Dinge wirklich auseinanderzuhalten. Doch offenbar geht das auch anderen so, u.a. auch unseren Politikern, die scheinbar keine Zeit mehr haben, sich ein umfassendes Bild zu machen, sondern in irgendwelche Chöre einstimmen, deren Misstöne und martialisches Geschwätz nichts Gutes hervorbringen. Jeder Krieg beginnt mit einer Lüge, die viele weitere Lügen nach sich zieht. Das wirklich Traurige daran ist, dass die Lügen irgendwann nicht nur von der Seite des Aggressors ausgehen, sondern sich die Dynamik der Lüge auch auf diejenigen ausweitet, die gezwungen sind, dem Aggressor zu begegnen. Es dauert meist nur wenige Tage, bis aus einem komplexen Problem ein vermeintlich simples Gut-gegen-Böse geworden ist … 

 

Ich sage nicht, dass es leicht ist, die Dinge zu durchblicken und echte Lösungen anzubieten. Aber ich glaube dennoch nicht, dass mein Ideal einer Politik, die Vernunft und Mitgefühl verknüpft, absolut utopisch sei. 

Natürlich muss Putin irgendwie an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Doch kann man diesen Zwang vielleicht als Angebot verkleiden – ein Angebot, dass er möglicherweise annehmen wird, da ihm über kurz oder lang die eigene Bevölkerung aufs Dach steigen wird und er natürlich nicht sein Gesicht verlieren will. (Letzteres ist für solche nicht erwachsen gewordene Menschen immer besonders wichtig!) Und wir sollten uns da als Europäer hinterfragen und die Interessen der USA mal außen vor lassen, die wohl die größten Kriegstreiber dieser Welt sind … Haben wir Russland in den letzten Jahren ernstgenommen? Haben wir zugehört? Ist die Nato-Osterweiterung wirklich notwendig? Können wir, wenn wir ernsthaft nachdenken, u.U. nachvollziehen, dass Russland keine Nato-Truppen an seinen Grenzen möchte, wie auch die USA keine chinesischen oder russischen Truppen in Mexiko dulden würde? Wäre eine Entspannungspolitik, wie sie z.B. Willy Brandt vorantrieb, nicht immer noch die beste Lösung für alle Beteiligten? 

 

Das alles sind keine rhetorischen Fragen, die zeigen sollen, dass ich alles wüsste, andere aber zu dämlich sind. (Dafür sind im Internet andere zuständig …) Und es sind auch keine Fragen, die irgendwie das Handeln Putins entschuldigen sollen – ich würde gern sofort sein Zugticket nach Den Haag bezahlen … 

Es sind echte Fragen, von denen ich aber glaube, das man sich mit ihnen befassen muss, mit denen man vielleicht ringen muss, die vielleicht auch zu unbequemen Lösungen führen, die aber letztlich eines im Sinn haben, was uns allen besonders wichtig sein sollte: den Schutz von Menschenleben! (Und wenn wir Krieg weiterdenken, auch den Schutz unserer Umwelt, von der wir alle abhängen …)

Europa steht zwischen drei Imperien, die sich nahezu ständig in Verteilungskämpfen befinden: die USA, Russland und China. Aktuelle Politik überfordert mich oft, die Zusammenhänge sind für mich gern mal schleierhaft (wozu unsere Medien das ihrige beitragen) und ich stehe ratlos vor Entwicklungen, die irgendwie absehbar erscheinen, die ich mir aber dennoch nicht vorstellen kann, weil ich immer denke: „So beknackt wird doch wohl niemand sein …“ Doch. Sind sie. 

Womit ich mich allerdings ganz gut auskenne, ist die Geschichte der Antike. Und schaut man dorthin, kann man erkennen, dass riesige Reiche, allen voran das Römische Imperium, immer weiter wachsen mussten, um ihren Bedarf an Rohstoffen zu decken, wobei dieser Drang zum Wachstum zwangsläufig zu Kriegen führte, die wiederum Ressourcen verschlangen, so dass an anderer Stelle ein neuer Krieg entbrennen musste, um den anderen zu bezahlen und auch immer die Leute zu versorgen, die an diesen Kriegen verdienten und einen Teil ihrer schmutzigen Einkünfte der Kasse des jeweiligen Imperators zur Verfügung stellten … Das ist etwas verkürzt, trifft aber den Kern der Sache. Und das Schlimme daran ist, dass es heute noch genauso zu laufen scheint. 

 

Wie gesagt, ich bin kein Fachmann und meine Fragen überwiegen bei weitem meine Antworten … Nur wenige Dinge meine ich ganz genau zu wissen – und das sind Dinge, die nicht nur auf die aktuelle Situation zutreffen, sondern viel allgemeiner Natur sind: Kriege werden nicht von denen geführt, die sie vom Zaun brechen. Wir leben nicht mehr in Zeiten, wo der Anführer eines Volkes selbst zum Schwert griff und sich in vorderster Front dem vermeintlichen Feind entgegenwarf. Die Feiglinge und Möchtegern-Männer, die wir heute in vielen Staaten ganz oben in der Hackordnung entdecken können, halten sich schön im Hintergrund, sind weder an Kampfhandlungen beteiligt, noch erleiden sie irgendeinen Nachteil, wenn andere Staaten Sanktionen verhängen. Alles wird auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen, die meist keinerlei Interesse hat, andere Nationen zu überfallen. Die meisten Menschen wollen doch nur in Frieden leben. Das ist, denke ich, ein Wunsch, den man global annehmen kann, wenn nicht gerade religiöser Fanatismus und Weltbekehrungsfantasien eine Rolle spielen.

Weshalb passieren solche Dinge trotzdem?

Bleiben wir bei den oben genannten Grundproblemen, dann eher selten aus wirklichem Hass, öfter schon aus Verblendung, meist jedoch aus Gier. Ich glaube, wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass es stets Menschen gibt, die großes Interesse an Kriegen haben. Während die ganz normale Bevölkerung in Angst lebt, nur mit dem Nötigsten versucht, die Heimat zu verlassen und ihre Kinder zu schützen, reiben sich andere die Hände. Krieg war und ist einfach ein verdammt gutes Geschäft! 

Leider haben diese Gestalten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf politische Entscheidungsträger, sind oftmals in politischen Gremien vertreten oder (besonders absurd!) werden von Steuergeldern dafür bezahlt, Beratungsdienste zu leisten. 

Mir hat neulich einer meiner besten Freunde vorgeworfen, ich hätte zu hohe Ansprüche an Politiker bzw. an die Politik allgemein. Doch wenn ich sage, dass Politiker die Angestellten der Gesellschaft sind und von uns allen fürstlich für ihren Dienst bezahlt werden, und dass jeder Politiker, der sich von irgendeiner Lobby bezahlen lässt, einfach nicht seinen Job macht, für den er eigentlich eingestellt ist, dann formuliert das für mich nur den allergeringsten Anspruch, den ich an einen Angestellten haben könnte. Jedes Zuwiderhandeln kann nur bedeuten, diesen Menschen fristlos zu kündigen! 

 

Und so werden auch die 100 Milliarden, die nun der Bundeswehr zugeteilt werden sollen, den Krieg nicht beenden, sondern nur Leuten die Taschen füllen, deren moralischer Kompass schon lange ziemlich Schlagseite hat. 2020 hat der Rüstungsetat Deutschlands das erste Mal die 50-Milliarden-Grenze durchbrochen. 50 Milliarden, also 50.000 Millionen Euro, die dafür ausgegeben werden, eine Maschinerie des Todes anwachsen zu lassen, die letztlich niemandem dient. Kann es wirklich eine Lösung sein, dies immer weiter voranzutreiben? Ist Krieg ein probates Mittel, um Frieden zu erreichen? Wie viele bessere Möglichkeiten fallen uns ein, dieses Geld zu nutzen?

 

Edmund Burke, ein Philosoph, Politiker und sozusagen der „Vater des Konservatismus“, hat die Gesellschaft nicht nur als Gemeinschaft der aktuell lebenden Menschen verstanden, sondern als Gemeinschaft, in der stets an die Toten, die Lebenden und die Ungeborenen gedacht werden müsse. Eine Gemeinschaft aus Tradition, Geschichte und gemeinsam errungenen Werten (die Toten), aus der Pflege des Erbes, der Weiterentwicklung und der Reflexion (die Lebenden) und der Notwendigkeit des Erhalts und des umsichtigen Gebrauchs von Ressourcen (für die Ungeborenen). 

In diesem Sinne bin ich durch und durch konservativ und möchte bewahren, was ich als gut erkannt habe und was niemandem etwas nimmt, sondern allen etwas gibt. Weiteres Aufrüsten, weitere Kriege, um imperiale Ansprüche zu sichern (die nicht einmal die eigenen sind) und ein immer stärkeres Beleihen der Zukunft in Form von Ressourcenverschwendung (es gibt wohl keine größere Ressourcenverschwendung als Krieg), dienen diesem conservare, diesem Erhalten und Bewahren sicherlich nicht.

 

Ja, meine Fragen überwiegen … und letztlich ist dieser Text auch nur eine Momentaufnahme von dem, was in mir vorgeht. Ein Versuch, das in Worte zu fassen, was mich gerade beschäftigt (und bei dem mir Tolstoj verzeihen möge, dass ich mir seinen Buchtitel „geliehen“ habe). Wer weiß, wieviel Verrücktheit wir noch in hohen Ämtern zulassen werden und wie ich dann auf die Folgen reagieren muss … 

Ich hoffe einfach, dass wir alle immer mehr dazu beitragen wollen, unseren Kindern und allen Ungeborenen eine Welt zu hinterlassen, die ein wahrhaft menschliches und menschenwürdiges Leben ermöglicht. 

 

© Dirk Grosser