Wie geht es eigentlich dem alten Mann auf der Wolke?

Wie geht es dir? Das werden wir öfter gefragt, und auch wir selbst stellen diese Frage immer wieder. Mal mit echtem Interesse und echter Aufmerksamkeit, mal eher halbherzig und eigentlich schon beim übernächsten Gedanken. Doch diese Frage ist so wichtig, um wirklich zu sehen, um ein Gefühl für das Gegenüber zu bekommen und miteinander zu sein, eine Beziehung zu führen, Freundschaft zu erleben, Nähe zu empfinden. 

Daher können wir diese Frage vielleicht auch der Welt stellen, der einzigen Heimat, die wir haben … und auch diesem ominösen Etwas, von dem so viele von uns annehmen, dass es die Quelle der Schöpfung und all der Fülle ist, die uns umgibt.

Wie geht es also Gott? Eine spannende Frage, die zu beantworten gar nicht so leicht ist. Wäre Gott eine Person, ganz traditionell gedacht dann noch ein ER, hätte er sich im Laufe der Menschheitsgeschichte wohl so oft die Haare gerauft, dass er nun eine ähnliche Frisur wie ich vorzuweisen hätte. Wahrscheinlich wäre er ein rotgesichtiger Griesgram, der aufgebracht hin und her stapft, geplagt von Herz-Kreislauf-Problemen und Verdauungsschwierigkeiten … Angesichts unserer stetigen Unzufriedenheit, unserer Ideen, nicht zu genügen und nicht reich genug, nicht schön genug, nicht liebenswert genug zu sein, sowie der daraus resultierenden Gier nach immer mehr und der Zerstörung der Schöpfung, die aus all dem folgt, könnte man es Gott wohl nicht übelnehmen, wenn sich bei ihm eine gewisse Verzweiflung breit machen würde. Und bedenkt man noch all die Zwistigkeiten, den Rassismus, den Sexismus, den Speziesismus … dann wäre auch ein leicht alttestamentarischer Groll nachzuvollziehen, der in die Planung der nächsten Sintflut münden könnte. Vielleicht können wir uns glücklich schätzen, dass der gute, alte Wanderprediger aus Galiläa an Gottes Seite sitzt und ihm immer wieder erzählt, dass es auch Menschen gibt, die eigentlich ganz okay sind … Die Sünder und Sünderinnen, die Unterdrückten und Entrechteten, die ganz einfachen Leute, die Armen, die an den Rand Gedrängten, die aufrichtig Liebenden – ja, die beruhigen Gottes Gemüt vielleicht etwas, wenn ihn auch wiederum die Ursachen für deren Leid mächtig auf die Palme bringen. Wer weiß … vielleicht ist das jeden Tag ´ne ganz knappe Kiste und wir verdanken es nur Jesu überzeugender Erzählkunst, dass Gott nicht auf die Idee kommt, ein Planet ohne Menschen sei irgendwie besser für seinen Blutdruck.

 

Zum Glück hockt da oben wohl kein alter, weißbärtiger Mann auf einer Wolke, der sich Gedanken über unsere Unzulänglichkeiten macht und dabei ohne Unterbrechung Beta-Blocker schluckt. Ich glaube eher an einen großen, wunderbaren und alles umschließenden Prozess, in dem du und ich und alles, was ist, wächst, wird und vergeht, aufgehoben und geborgen sind. Ein Prozess, der lebendig ist und sich entwickelt, der sich in aller Göttlichkeit und Herrlichkeit entfaltet, der ein ewiges Geschehen in Freiheit ist und in sich jede Möglichkeit zum Guten oder Schlechten birgt. Manchmal mag es in die falsche Richtung gehen, doch dann entfaltet sich wieder Heilsameres, was auch gleich Vergebung für das Vergangene beinhaltet. Es ist ein stetiges Wachsen für alles, was daran beteiligt ist: jeder Mensch, jedes Tier, jeder Baum, jeder Stein, jede Wolke, jeder Stern. Ein Universum, das sich in jeder weiteren schöpferischen Sekunde wie eine große, erblühende Blume dem Licht zuwendet und dabei den Duft von Schönheit, Zuneigung, Verlockung, Vergebung und Hoffnung verströmt. Da ist keine übermächtige Superperson, die Hoffnung für uns hat (oder auch nicht), sondern ein Prozess des Lebens, der selbst Hoffnung ist. 

Wenn ich mich also ganz ernsthaft frage, wie es Gott geht, dann entdecke ich in mir die stille Überzeugung, dass es diesem göttlichen Entfaltungsprozess so geht wie dir und mir – und vor allem so wie dem, was zwischen uns geschieht. Deine Hand, die sich nach mir ausstreckt oder einem Fremden gereicht wird, ist die Hand dieses großen Prozesses. Unser achtsames Gespräch ist der befruchtende und verbindende Dialog zwischen allem, was ist. Unser Beisammensein ist das Miteinander der Schöpfung, das gemeinsame Entfalten in den Raum der Möglichkeiten. Unsere Gerechtigkeit, unsere Liebe, unser Frieden, unser Glück bilden die Verfassung der Welt und damit die Verfassung des Göttlichen. Mit allem, was wir tun, arbeiten wir an diesem Prozess mit, gestalten ihn nach unserem Bilde, sind eingeladen zu Verantwortung und auch zur Feier all dessen, was uns umgibt. Und unser Tod ist sowohl die Vergänglichkeit als auch die Umformung und Wiedergeburt dessen, was all dies in seinem innersten Kern ausmacht. 

Weiß ich alles über diesen Prozess? Ganz bestimmt nicht. Aber mich trägt das Gespür für eine solche Entfaltung, die ich in Momenten der inneren Stille erahnen kann. Wenn mein Blick durch grüne Wälder schweift oder ich den heranbrandenden Wellen des Meeres zusehe, wenn ich spielende Hunde beobachte oder die Spatzen in unserem Garten, wenn ich Kinderlachen höre oder Musik mich berührt … Dann spüre ich für einen Augenblick: Alles ist auf seinem je eigenen Weg und hat Anteil an dieser lebendigen Wirklichkeit, die wir mangels eines besseren Wortes mit den vier Buchstaben G O T T bezeichnen. Und um mit Bernhard von Clairvaux zu sprechen, kann ich diesen Gott nicht begreifen, aber ich kann mich von ihm ergreifen lassen. Ich kann ein bewusster Teil dieses Geschehens sein und meinen kleinen Anteil dazu leisten, dass dieser Prozess nicht wie eingangs beschrieben in Verzweiflung endet. Weil ich mir nur eins wünsche: Dass du und ich zusammen mit allen anderen Wesen die Welt betrachten und wissen, dass dieses große Geheimnis G O T T sich gut entwickelt.

 

© Dirk Grosser