Die Fülle eines jeden Augenblicks

Von XXL-Pizzas, spielenden Kindern und anderen Wundern des Alltags

In unserer heutigen Eventgesellschaft ist schnell vom „grauen Alltag“ die Rede, von dem es sich abzusetzen gilt. Wellness-Center, Freizeitparks und natürlich auch das Fernsehen preisen sich mit flotten Marketingsprüchen als geeignete Fluchthelfer an, die uns von allem ablenken, was uns anödet. Und sollte gar nichts mehr bei dem Versuch helfen, dem eigenen Leben ein wenig Farbe einzuimpfen, bleibt letztlich noch die Städtereise mit Musicalbesuch oder der Club-Urlaub in der Animationshölle.
Ist unser Leben, das nun einmal zum großen Teil aus Alltag besteht, wirklich so langweilig, dass wir am liebsten wegrennen möchten? Oder ist es viel eher so, dass wir verlernt haben, die verborgenen Wunder in unserem Leben wahrzunehmen?

Ich beantworte die Frage mal gleich vorweg, damit auch alle, deren Aufmerksamkeit gerade für ein 30-sekündiges Youtube-Video ausreicht, etwas von diesem Artikel haben … Ja, es ist tatsächlich unsere Wahrnehmung, die in Schieflage geraten ist. Oder um einen bekannten Satz des Stoikers Epiktet abzuwandeln: Es sind nicht die Dinge, die uns einschlafen lassen, sondern die Weigerung, unsere Augen wirklich zu öffnen.
Denn die Welt, die wir bewohnen und in der wir uns täglich bewegen, strotzt nur so von Wundern, die uns – wenn wir sie wirklich betrachten – den Atem rauben. Manche dieser Wunder sind allgemein anerkannt, wie zum Beispiel unsere Kinder, die in unserem Beisein die aberwitzigsten Metamorphosen durchlaufen und manchmal langsam, manchmal in Windeseile erwachsen werden, während wir daneben stehen. Können wir in jedem Moment erkennen, wie das Leben selbst sich in immer neuen Formen in ihnen ausdrückt? Wie das zauberhafte Wesen, das sich innerhalb eines Tages vom Piraten zum Feuerwehrmann oder zur Prinzessin verwandeln konnte, zum übellaunigen Teenager wird, dem alles peinlich ist, um dann wieder zu einem grandiosen Entdecker der ganzen Welt zu werden und seinen oder ihren Weg (fast) ohne unsere Hilfe zu gehen? Können wir uns an Tränen erinnern, an Gespräche in der Küche, an das Lachen im Garten?
Andere Wunder sind unter Umständen etwas schwerer zu erkennen, wie beispielsweise ein dreibeiniger Hund, dem nichts die Lebensfreude rauben kann und der trotz aller schlechten Erfahrungen sein großes Herz für uns öffnet, uns mit seiner Liebe und seinem vollgesabberten Ball beschenkt.

In die Tiefe schauen
Und manche Wunder wirken vielleicht auch einfach zu banal und entgehen deshalb unserer Aufmerksamkeit. Wir schauen nicht tief genug, verharren an der Oberfläche und sehen daher nicht das innerste Wesen der Dinge. Ein simples Beispiel ist unser Essen, das wir oft nebenbei herunterwürgen, während wir schon weitere Mails beantworten oder irgendetwas bei Facebook liken. Wir suchen stets woanders nach dem Wunder und übersehen das Wunder auf unserem Teller!
Eine meditative, wohlmöglich mystische Sicht der Welt, begibt sich in tiefere Schichten der Realität: Da ist nicht nur die XXL-Pizza, sondern Getreide, das gesät und geerntet wurde, das Sonne und Regen benötigte, das weiterverarbeitet werden musste, das als Mehl in den Handel kam, von einem Pizzabäcker gekauft und mit Wasser, Hefe und Salz zu einem wagenradgroßen Fladen geformt wurde. Da sind die Auberginen, Zucchinis und Tomaten, die ebenfalls in fruchtbarer Erde wachsen mussten, sich der Sonne entgegenreckten und Regenwasser tranken. Da ist der Käse, der (im besten Fall) als Gras begann, das von einer Kuh gefressen und in Milch verwandelt wurde, von einem Tier, das lebt und atmet und ein wunderbarer Teil der Gemeinschaft aller Wesen ist. Da ist das Feuer, das die Pizza gebacken hat, der Mann, der sie in eine Pappschachtel warf und ein anderer, der sie unter widrigsten Umständen (offenbar das erste Mal in dieser Stadt unterwegs und weder Navi noch Telefon dabei) zu uns brachte. Wenn man es genau – also achtsam – betrachtet, hat man nicht einen mit Gemüse belegten Teigfladen vor sich, sondern, bedenkt man die Sonne, die Erde, den Regen, das Feuer und die Ahnenreihen der beteiligten Männer (und auch der Kuh), das ganze Universum und somit das ganze Wunder des Seins vor sich. Und man kann es sogar noch essen!

Plötzlich sieht die Welt ganz anders aus
Vielleicht mag dieses Beispiel auf den ersten Blick absurd profan wirken, doch genau darum geht es: Fähig zu werden, in allem das Heilige zu erkennen. Achtsam zu werden für das große Wunder, das sich in den alltäglichsten Dingen offenbart. Gegenwärtig sein, der Tiefe der Dinge eingedenk sein, der Gegenwart zugewandt sein – mit dieser Geisteshaltung und dem daraus resultierenden offenen Blick sieht die Welt plötzlich ganz anders aus. Wenn wir das Wunder auf unserem Teller erkennen können, dann können wir es auch anderenorts entdecken: auf einer Parkbank, im Gespräch mit unserem Postboten, beim Beobachten der Eichhörnchen in unserem Garten, im Gewusel des Marktplatzes, im fragenden Blick eines Fremden, in der Hilfe eines Kollegen und in den stundenlang aufgebauten Spielwelten unserer Kinder.
Der tiefe Blick auf die Welt ist sozusagen eine Flatrate für Wunder: Wir haben jederzeit und an jedem Ort Zugang zu dem großen Mysterium des Lebens, das uns umgibt und durchdringt.
Wenn wir achtsam in die Fülle des Augenblicks eintauchen können, weitet sich unser Herz für die Schönheit, die jeder Moment in sich trägt. Wenn wir unser Verhältnis zur Welt ändern, indem wir beginnen, tiefer zu blicken, indem wir das Universum in unserer Pizza erkennen und das Herz des Universums in den sanften Augen einer Kuh sehen, dann entsteht in uns Raum für eine Freude am Leben, die wir so vielleicht noch nie gespürt haben:  Wir können unseren Geist in die Schönheit hineinfallen lassen, wir können in der Beobachtung versinken und unser Herz in seiner tiefsten Tiefe berühren lassen. Es ist der Moment der wirklichen Kontemplation, der uns in diesen Zustand versetzt, der Moment des Verliebens in die Welt und unser Leben, das völlig jenseits von allen Konsumverlockungen, Traumschiffen und singenden Zügen voller Wunder und alles andere als „grauer Alltag“ ist.

Die große Feier
Diesen Alltag, der so von Leben durchdrungen ist, der in jeder Sekunde das große Geheimnis offenbart, können wir mit all unseren Sinnen feiern.
Wir können die Herrlichkeit eines Kindes ebenso feiern wie die Herrlichkeit des Pferdekopfnebels im Sternbild Orion. Wir können sowohl die Herrlichkeit unseres Partners oder unserer Partnerin feiern, der oder die an unserer Seite ist, uns vertraut an der Hand nimmt, uns Geborgenheit und Lust schenkt, als auch die Herrlichkeit eines Lavendelfelds, dessen Duft uns betört. Wir können die Herrlichkeit feiern, dass es überhaupt Leben und Empfindung gibt – wir können immer wieder staunen, uns in die Dankbarkeit führen lassen und die Tiefe dessen spüren, wovon alle Mystik und alle Spiritualität zu sprechen versuchen.
Wir können trunken werden von einer Welt, die uns überaus großzügig Luft zum Atmen gibt, die uns Möglichkeiten bietet, zu lieben und geliebt zu werden; die uns mit Küssen begegnet und mit Blicken, die uns Zugehörigkeit schenken … Eine Welt, in der es Kinderlachen und berührende Musik gibt, grüne Hügel, den Geruch des nahen Meeres und Sonne auf unserer Haut. Eine Welt, in der wir unsere XXL-Pizza mit guten Freunden teilen können, in der es ein Feuer am Abend und tiefe Gespräche gibt, Umarmungen des Glücks und Umarmungen der Trauer; Zeit, den Wolken zuzusehen und Zeit, mit Menschen spazieren zu gehen, mit denen man sich schweigend wohlfühlt. Eine Welt, in der es Wiesen, Wälder, Berge, Flüsse, Seen, Meere gibt – und Tiere, die so anders sind als wir, und dennoch so verwandt mit uns.
Wenn wir unsere Augen für die Wirklichkeit öffnen, also für eine Ebene der Realität, die in uns wirkt, dann können wir eine Welt entdecken, die so spannend ist, dass sie jeden Augenblick mit ihrer überquellenden Fülle verzaubert, in der alles scheinbar Profane heilig ist, in der wir ganz Mensch sein dürfen und in der das Leben selbst das einzige „Event“ von Bedeutung ist.

(c) Dirk Grosser