Menschlichkeit vs. Dogma

Die Reformbewegung „Maria 2.0“, die sich gegen die Machtstrukturen innerhalb der katholischen Kirche einsetzt und einen Zugang zum Priesteramt für Frauen fordert, hat ein Interview mit mir über die Besonderheiten des keltischen Christentums geführt. Diese Anfrage hat mich wirklich sehr gefreut, denn zum einen finde ich alle Punkte, für die Maria 2.0 steht, absolut unterstützenswert, und zum anderen zeigt dieses Gespräch auf, wie viel diese uralte und fast vergessene Spiritualität der heutigen Zeit noch geben kann. (Denn viele Dinge, die heute als Reformen gefordert werden, waren im keltischen Einflussbereich des 5. und 6. Jahrhunderts selbstverständlich!)
Maria 2.0 ist eine freie Initiative wirklich engagierter Frauen, denen ich viel positive Aufmerksamkeit wünsche. Schaut doch mal auf die Webseite https://www.mariazweipunktnull.de/.


Herr Grosser, warum braucht die katholische Kirche in Sachen „Spiritualität“ neue Impulse? Und warum kann uns gerade Irland, das eher einen strengen Katholizismus vertritt, neue Wege weisen?

Ich habe den Eindruck, dass die katholische Kirche heute ganz allgemein mehr damit befasst ist, die eigene Position zu verteidigen, als auf die Menschen zuzugehen und ihnen dort zu begegnen, wo sie wirklich Fragen haben und für Begleitung dankbar wären. Für mich wäre das Ideal eine Kirche, die einen Raum schafft, in dem eigene Erfahrung möglich ist, und die davon absieht, lediglich ein festzementiertes Glaubensbild zu vermitteln. Ein Raum, in dem Mitgefühl aufblühen kann und wo wahre Menschlichkeit gefragt ist, die immer über jedem Dogma steht.
Vom heutigen Irland und seinen Kirchen können wir in dieser Hinsicht leider nicht viel erwarten, denn das keltisch geprägte Christentum, das ein echter Impulsgeber sein kann, ist dort seit vielen Jahrhunderten nicht mehr wirklich lebendig. Aber Einzelpersonen in aller Welt, die meist außerhalb der Kirchen stehen, vertreten nach wie vor eine von diesem Sonderweg des Christentums inspirierte Mystik, die uns über den Abgrund der Zeit hinweg Antworten auf heute drängende Fragen geben kann. Ein gesünderes Verhältnis zur Natur, das Erkennen Gottes in jedem Aspekt der Schöpfung, die ganz selbstverständliche Gleichwertigkeit der Geschlechter, die Freiheit unserer Entscheidungen, das grundsätzliche Gutsein der Welt und aller Wesen … – all das finden wir im keltischen Christentum auf wunderbare Weise ausgedrückt. Wir finden es in zauberhaften Geschichten, in der Schönheit von Segensworten und natürlich auch in der Theologie eines Pelagius, die mir sehr wichtig ist.

Mit der heiligen Brigida von Kildare haben die Iren eine Frau in den prominenten Rang einer ihrer Volksheiligen erhoben. Kann diese Frau auch für die Reformbewegung Maria 2.0, die sich unter anderem für den Zugang von Frauen zu kirchlichen Ämtern einsetzt, ein Vorbild sein?
Ja, unbedingt! Brigida von Kildare ist für mich eine ungeheuer spannende Figur mit viel Kraft und wahrem inneren Feuer. Natürlich ist ihre Lebensgeschichte von Legenden überlagert, aber in diesen Legenden schwingt eine tiefere Wahrheit mit, die den Menschen, die diese Geschichten überliefert haben, nicht ohne Grund wichtig war. Brigida wird auf einer Türschwelle geboren, ein Zeichen dafür, dass sie zwischen den Welten steht, zwischen Göttlichem und Menschlichem vermittelt. Sie verschenkt ähnlich wie Franz von Assisi Teile des Vermögens ihres Vaters an die Armen, geht auf alle zu, zeigt stets eine große Offenheit. Sie lässt sich von Mächtigen nicht einschüchtern, sondern steht für sich selbst, ihren Glauben und vor allem auch für die Schwachen ihrer Gesellschaft ein. Ihr Mitgefühl ist voller Zartheit und zugleich sehr wehrhaft – sie schützt Tiere vor Jägern und lässt nicht zu, dass Unschuldige leiden. Sie war definitiv keine Frau, die geschwiegen hat. Darüber hinaus gibt es Geschichten, die davon berichten, wie sie von keltischen Druiden ausgebildet wurde und ihren Geist mit Robben und Möwen verbinden konnte, um mit ihnen zu tauchen bzw. zu fliegen. Sie ist also eine Frau, die wirklich mitten in der Schöpfung gegenwärtig ist und dort das Göttliche findet, eine Frau, die offen ist für ihre eigene Erfahrung und dieser vertraut. Und Brigida von Kildare gilt in gewisser Weise als „Fortführung“ der keltischen Göttin Brigid, einer Natur- und Fruchtbarkeitsgöttin, die ebenso für die Schmiedekunst und die Poesie zuständig war. Hier vermischen sich viele Aspekte in einem großen Sowohl-als-auch, das für das keltische Denken typisch und mir persönlich sehr sympathisch ist.
Insofern halte ich Brigida von Kildare für ein wunderbares Vorbild – sowohl für Frauen als auch für Männer! Sie ist ein wirklich ganzer Mensch, hat einen völlig eigenen Zugang zum Göttlichen und zeigt damit, dass jeder Mensch diesen eigenen Zugang entdecken und leben kann. Und dass natürlich auch jeder Mensch, ganz unabhängig von seinem Geschlecht, andere Menschen inspirieren und sie auf ihrem Weg begleiten kann. Über die Idee, dass nur Männer das Priesteramt ausüben können, hätte Brigida gemeinsam mit allen keltischen Christen nur kopfschüttelnd gelacht. Über die Idee des Zölibats übrigens ebenso.

Am Ende Ihres Buches beschreiben Sie eine spirituelle Erfahrung bei einem Angelausflug, den Sie mit Seán anstelle eines Gottesdienstbesuches unternehmen. Halten Sie die traditionelle Liturgie für völlig überholt oder sehen Sie Möglichkeiten, etwas davon unter anderen Vorzeichen neu zu beleben?
Die christliche Liturgie und Rituale ganz allgemein sind wunderbar und wichtig, denn in ihnen kann echte Gemeinschaft entstehen, wenn sie mit Leben gefüllt und nicht lediglich als Museumsstücke verwaltet werden. Wir fühlen uns mit den anderen Gemeindemitgliedern verbunden, mit uns selbst und auch mit Generationen vor uns, die einer ähnlichen Liturgie folgten. Diese Zugehörigkeit ist wichtig, und doch stellt sie nur einen Teil immer weiter reifenden Spiritualität dar. Wie gesagt, ist mir der Raum der eigenen Erfahrung wichtig, der für mich eher von Mystik, Poesie und Meditation als von herkömmlicher Liturgie geöffnet wird. Jesus sagt dies, Paulus sagt das, die Kirche sagt jenes … aber was sage ich? Was ist mir wichtig? Was bedeutet mir etwas? Wo kann ich das Heilige entdecken? Nur wenn ich Möglichkeiten finde, mir diese Fragen wirklich zu stellen, kann ich eine echte Beziehung zum Göttlichen und zur Schöpfung aufbauen. Daher ist für mich ein stiller Tag an einem See oder in den Bergen meist eine Art „Gottesdienst“, die mir mehr liegt. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man solche Dinge miteinander verbindet und in Gottesdiensten auch Stille zulässt, die es Menschen erlaubt, ganz eigene Begegnungen mit dem Göttlichen zu machen. Wenn ich selbst in meinen Seminaren die Eucharistie feiere, dann mache ich das auf meditative Weise, bei der Brot und Wein Verbindungen zum Wunder der Schöpfung aufbauen. Ich denke, man kann wirklich Gemeinschaft und das Ureigene miteinander verbinden, kann Zugehörigkeit und Freiheit gleichzeitig leben.