Der Herzschlag der Welt

Wie uns Trommeln mit uns selbst und der Natur verbinden

Donnernde Bassschläge, die durch Mark und Bein gehen, dazu die helleren und fordernden Töne, die der Rand der Trommel hervorbringt: Rhythmen, die uns mitreißen, die uns in den eigenen Körper führen und uns ganz fühlen lassen. Das Trommeln stellt die ursprünglichste und wohl auch kraftvollste Form der Musik dar. Wenn ich selbst trommele oder jemand für mich trommelt, spüre ich im Klang der Trommeln eine urtümliche Energie, die mit nichts zu vergleichen ist. Jeder Ton, der durch eine Hand oder einem entsprechenden Stick auf dem Fell einer Trommel entsteht, schickt seine Schwingungen in die Welt hinaus. Die Schwingung trifft meinen Bauch und mein Herz, geht in die Beine und leert vor allem den Kopf.
 
Kaum jemand kann sich der Wirkung eines intensiven Trommelrhythmus entziehen, weshalb Schlaginstrumente auch seit jeher für spirituelle Zwecke eingesetzt wurden. Irgendetwas in den tiefen Klängen und in der Vibration, die im Körper spürbar ist, spricht mich an, erinnert mich an meine Ursprünge, raunt mir etwas über die Abgründe der Zeit zu. Regentropfen auf ausgedörrten Ebenen, Herden galoppierender Huftiere, das Knacken von Holzscheiten im Feuer, der gewaltige Donner eines Gewitters – all das und viel mehr kann die Trommel imitieren, miteinander verbinden und zu etwas Neuem gestalten. Sie ist Teil des Herzschlags der Welt, des pulsierenden Lebens, das mich umgibt und durchdringt.
Achtsam lauschend und mich einlassend, bekomme ich Zugang zu diesem Herzen, auch zu einem mythischen Unbewussten, und mache die Erfahrung, was es heißt, im Einklang zu sein. Der Herzschlag der Erde ruft jeden Menschen – und seit jeher antworten Menschen auf diesen Ruf mit den Rhythmen ihrer Lieder und Rituale, während die Trommel dabei stets eines der wichtigsten Instrumente war. Mal laut und tief dröhnend, mal zart und mit Obertönen durchsetzt, war sie schon immer ein wundervolles Kommunikationsmittel mit der Natur oder den Göttern, Göttinnen und Geistern, die mit den Naturkräften assoziiert wurden.
Schamanen aus nahezu allen Teilen der Welt nutzen die Trommel, um ihre Seele  auf Reisen zu schicken. Der zumeist monotone Rhythmus versetzt sie in Trance, lässt ihren Geist fliegen und verschafft ihnen so Zugang zu anderen Ebenen der Realität beziehungsweise zu anderen Welten. Diesen Phänomenen veränderten Bewusstseins hat sich auch die Wissenschaft gewidmet und durch Verfahren wie beispielsweise die Elektroenzephalografie (EEG) festgestellt, dass bestimmte Rhythmen die Aktivität in vielen Gehirnarealen fördern und zur Ausschüttung von Neurotransmittern führen, die eine Trance begünstigen, die wiederum unsere Wahrnehmungsfähigkeit erweitert. Interessanterweise sind die traditionellen schamanischen Rhythmen (etwa 220 bis 240 Schläge pro Minute) genau die Frequenz, die diese Vorgänge auslösen.

Anderswelt und seelische Tiefe
Was aber genau diese Welten sind, in die Schamanen reisen, dazu hat die Wissenschaft eher wenig zu sagen. Für mich gibt es da zwei Erklärungsmöglichkeiten, die ich absolut gleichberechtigt nebeneinander stehen lassen möchte: Zum einen kann man es so sehen, dass neben unserer Welt (oder unserer Dimension) noch eine andere Welt existiert, in der Geistwesen als real existierende Entitäten leben und uns mit wohlmeinenden Ratschlägen und ihrer ganz eigenen Form der Weisheit zur Seite stehen. Das ist die traditionelle Sichtweise. Zum anderen gibt es aber auch eine psychologische Erklärungsebene, die vielen Menschen in unserem säkularen Zeitalter vielleicht näher ist. Hierbei spricht man eher von Reisen in die Tiefe der eigenen Psyche, in der uralte Bilder (Archetypen, Urmuster, mythologisch geformte Bilder) gespeichert sind, durch die das bereits erwähnte mythische Unbewusste mit uns kommuniziert. Mit anderen Worten: Unsere Seele zeigt unserem Bewusstsein Bilder, deren Weisheit wir für unser alltägliches Leben nutzen können.
Wie gesagt, beide Erklärungen haben ihre Berechtigung – wirklich wichtig ist letztlich das Hören auf diese (innere oder andersweltliche) Weisheit und das eigene Umsetzen in die Praxis.
Sowohl für den traditionellen als auch den modernen Schamanen bedeutet dies, die erhaltenen Botschaften von Tiergeistern und anderen hilfreichen Wesen dem Stamm bzw. der Gemeinschaft/den Klienten/den Kursteilnehmern zu überbringen, damit die Weisheit, die in diesen Botschaften verborgen liegt, dem Wohl der Gemeinschaft dienen kann. Was für moderne Schamanen vielleicht eine größere Rolle spielt als es das früher tat, ist der für viele Menschen neue und weite Zugang zur Natur, der in diesen Botschaften stets mitschwingt und der ein überaus notwendiges Gegengewicht zur heutigen Entfremdung von der Welt darstellen kann, unter der so viele Zeitgenossen leiden.
Hier ist die Trommel für mich ein wichtiger Helfer, denn diese Erinnerung an Uraltes, an die ursprüngliche Kraft, die und alle durchfließt, wird schon mit den ersten Trommelschlägen geweckt - ganz gleich, ob ich nun bei einer schamanischen Reise eine einzelne Rahmentrommel verwende oder bei anderen Ritualen wie beispielsweise den Krafttiertänzen mehrere Trommeln gleichzeitig spiele und die Bewegungen der Teilnehmer mit wechselnden Rhythmen begleite.

Klang und Stille
Für mich ist die Trommel daher eines der vielfältigsten Werkzeuge: Sie ist Ritualgegenstand und Musikinstrument, sie ist Hebamme uralter Erinnerungen und ein ganz besonderer Weg in die eigene Kraft. Sie bringt Menschen zum Träumen, zum Reisen, zum Tanzen und zurück zu einer echten Verbindung zu ihrer Körperlichkeit.
Und manchmal führt sie auch in eine tiefe Ruhe, denn Trommeln heißt Hinhören, uns leiten lassen von einem Rhythmus, der auf geheimnisvolle Weise in uns gegenwärtig ist – und ebenso bedeutet es Lauschen auf die Stille nach dem Trommeln, die dann umso tiefer ist. Wer jemals länger getrommelt hat, vielleicht mit anderen Menschen gemeinsam in einer Zeremonie, dem wird diese Stille aufgefallen sein. Nach dem Verklingen des letzten Trommelschlages ist sie auf wunderbare Weise gegenwärtig, obwohl die Ohren von den Trommeln und vom eigenen Herzschlag noch ein wenig rauschen. Wir können das Blut in unseren Adern hören und werden uns jeder Regung und Veränderung unseres Atems bewusst.
Auch auf diese Weise wird die Trommel zu einem Verbindungsglied zwischen uns und der Welt, denn so wie das Trommeln aus Klang und Stille besteht, so besteht auch die Welt daraus. Alles ist ein Wechsel: Das Kommen und Gehen von Frühling, Sommer, Herbst und Winter; das Zurückweichen und erneute Hereinbrechen des Meeres bei Ebbe und Flut; der große Kreislauf von Geburt, Altern, Tod und Wiedergeburt, dem wir alle unterworfen sind; all das Werden, Wachsen und Vergehen. Manchmal ist es leichter, diesem Wandel gemeinsam mit einer Trommel zu lauschen, deren Rhythmus uns dem Verstehen entgegenträgt. Der Wechsel zwischen laut und leise, zwischen dröhnenden und zarten Tönen, zwischen schnell und langsam, zwischen getragen und energetisierend, verweist uns auf den ewigen Wandel in der Natur, an dem wir teilhaben und der auf der tiefsten Ebene unser Leben bestimmt.

Echo des Urknalls
Das Herz der Trommel, unser eigenes Herz, das Herz der Welt und die Herzen aller anderen Wesen – sie alle können in einer schamanischen Zeremonie in einem Takt schlagen und damit Prozesse der Heilung und des Ganzwerdens unterstützen. Den Rhythmus der Trommel zu finden, lässt uns auch sensibler für unsere eigenen Rhythmen werden.
In Nigeria und anderen afrikanischen Kulturen heißt es sogar, dass Rhythmus die Seele des Lebens ist, weil das ganze Universum um Rhythmus kreist, und wer aus dem Takt gerät, kommt in Schwierigkeiten. In solchen Zeiten können wir uns aber auch dem großen Herzschlag von Mutter Erde hingeben, uns wieder voll und ganz auf uns selbst besinnen, uns allein in die Natur begeben, nach innen lauschen, spüren, was unser Körper uns aufzeigt, was unsere Seele gerade braucht und wonach unser Geist sich sehnt. Die Trommel lehrt uns diese besondere Form der Achtsamkeit, in der uns die große Melodie des Universums bewusst wird, dieses allumfassende Lied, dessen Teil wir sind.

So kann Musik eine überaus kraftvolle spirituelle Praxis sein, in der wir uns selbst und das Leben auf ganz neue Weise spüren.
Immer neue Töne, neue Melodien, neue Rhythmen bringt der Kosmos durch uns hervor. Musik ist Rhythmus gewordenes Sein, das sich selbst in immer neuen Formen und emotionalen Farben ausdrückt. Gemeinsam mit den Regentropfen und dem Wind in den Bäumen singen und trommeln wir das Lied, das alles umfasst. Aus dem einen Echo des Urknalls hat sich eine ganze Sinfonie entwickelt, der wir die eine oder andere Note selbst hinzufügen oder durch unser Erleben der Musik anderer mit unseren Emotionen bereichern können.

Bei solchen Trommelzeremonien sehe ich immer wieder Menschen tiefer atmen und glücklich strahlen. Und wahrscheinlich sehe ich ähnlich aus, auch wenn ich nicht „mitreise“, auch nicht mittanze, sondern die rhythmische Grundlage liefere. Denn neben allen spirituellen Aspekten, die ich bereits genannt habe, gibt es natürlich noch einen ganz wesentlichen Faktor, der das Trommeln für mich so attraktiv erscheinen lässt: Es ist laut, es hat Wumms, es lässt mich lebendig fühlen und es macht einfach einen riesigen Spaß!

(c) Dirk Grosser
Erschienen im Magazin VISIONEN.