Alleinsein

Momentan verbringen viele Menschen wahrscheinlich mehr Zeit allein, als sie es gewohnt sind, können ihre Fragen nicht in direktem Austausch mit jemandem teilen, haben vielleicht sogar das Gefühl, einsam zu sein. Ich möchte diese Zeit auf keinen Fall „schönfärben“ und so tun, als sei das alles nur eine wunderbare Chance. Vor allem, weil ich selbst immer die Zeit des Alleinseins sehr genossen habe und mich sehr gut mit meinem eigenen Geist beschäftigen kann, wäre das unangemessen, denn ich weiß, dass das manchen Menschen schwerfällt, und dass es natürlich auch etwas anderes ist, ob man das Alleinsein freiwillig wählt oder von den äußeren Umständen dazu gezwungen wird. Ich glaube aber dennoch, dass solche Phasen des Alleinseins sehr wertvolle Aspekte haben, denn sie bringen uns dazu, uns selbst auf einer anderen Ebene zu begegnen, als wir das in einer Gruppe könnten. Was wir sonst besprechen, müssen wir nun „be-schweigen“. Was wir sonst nach außen tragen, müssen wir nun in unserem Inneren bergen und reifen lassen, um es dann irgendwann ans Licht der Welt zu bringen: vielleicht als Musikstück, vielleicht als Gedicht, vielleicht als Artikel, vielleicht als Segen … Vielleicht als etwas so Wunderbares, was wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können.
Zeiten des Alleinseins schenken uns die Gelegenheit, ganz intensiv auf unser Herz zu lauschen. Wir können uns zurückziehen und in der Stille unserer inneren Burg unseren Weg betrachten, uns mit uns selbst verbinden und das Strahlen eines göttlichen Funkens in uns entdecken. Auch wenn Gemeinschaft noch so schön sein kann, sind Zeiten, in denen wir schweigend auf uns selbst zurückgeworfen werden, Möglichkeiten, mit uns selbst, unserer Seele, unseren Wünschen und Hoffnungen auf neue Weise in Kontakt zu kommen. Allein und doch verbunden. Still und doch in einem lebendigen Gespräch mit allem, was ist.
In diesem Sinne hier ein kleiner Segen für diese Zeiten des Alleinseins … Ich hoffe, dass die Worte ein wenig Mut machen können, diese Zeiten anzunehmen, um bald umso freudiger, heiler und ganzer wieder die Gemeinschaft zu genießen und sie miteinander zu feiern ...

Gesegnet sei die Zeit, in der die Welt dich alleine vorfindet
und still und leise in dein Herz flüstern kann –
mit der Freude eines Frühjahrsregens,
mit dem zarten Hauch eines Sommerwindes,
mit dem Rascheln des Herbstlaubes,
mit dem Knacken des Eises auf einem Wintersee.

Gesegnet sei die Zeit, in der du deinen Pfad alleine beschreitest
und alles um dich herum achtsam wahrnehmen kannst –
den morgendlichen Dunst auf den Feldern,
die Schönheit eines verwitterten Zaunes,
den Ruf eines Bussards, der hoch über dir kreist,
die stille Weisheit eines Steines am Wegrand.

Gesegnet sei die Zeit, in der du glücklich mit dir sein kannst
und dein Geist zufrieden in sich selbst ruht –
während der Nebel langsam um dein Haus kriecht,
der Tee in deiner warmen Küche zieht,
du dich zurücklehnst und ganz Atem bist,
und die Blaumeise auf deinem Fensterbrett herumtrippelt.

Gesegnet sei die Zeit, in der du allein und doch aufgehoben bist
und du dich in allem wiedererkennst –
in der Freude umherspringender Fohlen,
in dem gluckernden Lachen eines klaren Wildbaches,
in der Einzigartigkeit einer jeden, sich nach der Sonne reckenden Knospe
und in dem Frieden eines ruhenden Berges.

(c) Dirk Grosser