Jeder Mensch kommt im Laufe seines Lebens in die Verlegenheit, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Macht es überhaupt Sinn, sich über den „Sinn“ des Lebens Gedanken zu machen? Hilft
Spiritualität als Quelle persönlicher Erkenntnis, dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen?
Sokrates meint in seiner Apologie, dass ein Leben ohne Selbsterforschung nicht lebenswert sei. Das klingt erstmal nach einem harten Urteil, das vielleicht auch ein bisschen arrogant erscheinen
mag. Schließlich ist der Philosoph der professionalisierte Selbsterforscher – was soll er also anderes sagen?! Aber ich kann mir ein Leben ohne Selbsterforschung auch nur schwerlich vorstellen.
Oder sagen wir es so: Es ist bestimmt möglich, sich keine Gedanken über sich selbst und den Sinn seiner Existenz zu machen, aber die Reise nach innen, das Erforschen des eigenen Daseins, der
Versuch, sich selbst zu verorten und zu verstehen, stellt für mich eine enorme Bereicherung dar, bei der ich mich selbst und auch mein Verhältnis zur Welt klarer sehe. Somit ergibt es für mich
schon Sinn, nach dem Sinn zu fragen. Allerdings sollte man gut achtgeben, dass man sich nicht in diese Frage verrennt, sie zum Selbstzweck erhebt und somit zum ewig rastlosen Sucher wird. Das
passiert vor allem, wenn man meint, dass dieser Sinn irgendwie vom Himmel fallen würde und vorgefertigt irgendwo herumliegt, bis wir ihn dann finden. Wenn wir so denken, werden wir ständig weiter
suchen, von einer Tradition in die nächste hüpfen und immer hoffen, dort nun endlich das zu entdecken, worum es uns geht. Spiritualität kann eine große Hilfe sein, sie kann uns inspirieren und
überhaupt erst auf diese wichtige Reise schicken. Aber keine Tradition hält die eine Antwort bereit, die alle unsere Fragen löst. Ich denke, eine gute und reife Spiritualität schickt uns daher
zurück zu uns selbst und zeigt uns auf, dass wir es sind, die diesen Sinn für uns erschaffen müssen. Sokrates, Buddha, Laotse, Jesus –alles super Typen, die ihren eigenen Sinn für sich gefunden
hatten … Wenn wir ihnen nur hinterherstolpern und versuchen, ihren Sinn zu dem unsrigen zu machen, wird das meines Erachtens jedoch nicht funktionieren und wäre sicher auch nicht in ihrem Sinne.
Ich glaube, alle großen Gestalten der antiken Philosophie (als Philosophie noch als Lebenskunst verstanden wurde) und der Spiritualität richten mit ihrem ganzen Sein und Wirken eine Frage an uns:
Was sagst du dazu? So betrachtet, liefert Spiritualität uns nicht einen Sinn, sondern hält uns dazu an, tiefer zu forschen, uns gleichsam in uns selbst und die Welt zu versenken und dann unsere
ganz eigene Antwort, unseren ganz eigenen Sinn hervorzubringen.
Du hast dich mit der Stoa (z.B. Seneca, Marc Aurel) und mit Epikur (Philosophie der Freude) beschäftigt. Für den Stoiker als Individuum gilt es, seinen Platz in dieser Ordnung zu erkennen
und auszufüllen, indem er durch die Einübung emotionaler Selbstbeherrschung sein Los zu akzeptieren lernt und mit Hilfe von Gelassenheit und Seelenruhe zur Weisheit strebt. Kannst du eine
Quintessenz, basierend auf deinen Erkenntnissen zum Sinn des Lebens und Spiritualität mitteilen?
Wenn man die Stoa so kurz zusammenfasst, besteht die Gefahr, dass man den Eindruck gewinnt, ihr Ziel sei der absolute Fatalismus gewesen. Emotionale Selbstbeherrschung, sein Los akzeptieren – das
klingt doch alles sehr passiv und schicksalsergeben. Manchmal wird auch der Zen-Buddhismus so aufgefasst: Sich hinsetzen, den Mund halten und zu einem emotionslosen Stein werden. Für mich ist das
ganz und gar nicht so, und du hast auch schon das Wort erwähnt, um was es mir geht: Gelassenheit. Das ist im Deutschen von Meister Eckhart geprägt worden, einem christlichen Mystiker des 14.
Jahrhunderts. Und was er damit meint, trifft genau das, worum auch die Stoa und auch das Zen sich bemühen: sich selbst und alle Bilder lassen! Also sich selbst nicht so wichtig nehmen, sich
selbst nicht als Zentrum des Universums begreifen, seine eigenen Pläne nicht als Absolutes ansehen, die eigenen Selbstbilder immer wieder hinterfragen (oder gleich ganz beiseite schmeißen), die
Vorstellungen, die man sich von sich selbst und der Welt gemacht hat, einfach mal vergessen. Sich selbst nicht durch Rollen und Masken begrenzen, sondern Raum geben. Widersprüche in sich
zulassen. Die Dinge sehen, wie sie sind, und nicht, wie wir sie uns wünschen. Sich in dem, was ist, entspannen. Dann kehrt die von dir ebenfalls genannte Seelenruhe ein, die Weisheit überhaupt
erst ermöglicht. Von diesem Punkt aus können wir auf eine gute Weise handeln, indem wir nicht nur reagieren (aus unseren Vorstellungen und Wünschen heraus), sondern tatsächlich agieren. Frisch
und unbeschwert.
Es geht also nicht darum, seine Emotionen zu unterdrücken und alles so hinzunehmen, wie es kommt, sondern so frei zu werden, dass man Ereignisse entweder annehmen kann, weil man merkt, dass
die eigenen Wünsche diesbezüglich nicht das Maß aller Dinge sind (das gilt z.B. für Unabänderliches wie den Tod), oder aber sie ohne destruktive Wut oder gar Hass aktiv zu verändern (was sich
z.B. auf die eigene Lebensweise, aber auch auf soziale und politische Zusammenhänge bezieht). Man gibt sozusagen sich selbst und auch der Welt und ihren Geschehnissen einen gewissen Freiraum, in
dem sowohl Entfaltung als auch Veränderung möglich sind. Dann hat auch Epikurs Freude ihren Platz, ohne die es doch ziemlich öde wäre.
Die Fähigkeit glücklich zu leben, kommt aus einer Kraft, die der Seele innewohnt. Dieser Satz ist ein Zitat von Marc Aurel aus seinem berühmten Buch der Selbstbetrachtungen. (Römischer
Kaiser, 26. April 121 n. Chr. – 17. März 180 n. Chr.) In unserer Zeit scheint der Zugang zu dieser Quelle immer schwieriger zu werden. Scheitert der Mensch an der Sinnsuche und seiner
persönlichen Sinnfrage, weil das Glück sich nicht im Inneren finden lässt?
Ich denke, zwei Dinge machen es schwierig, Zugang zu dieser Quelle zu finden. Zum einen ist es der Lärm der Welt, wobei ich damit nicht nur die Rund-um-die-Uhr-Beschallung mit Werbung und mehr
oder weniger irrelevanten Informationen meine, sondern auch den Lärm, den wir mit unseren Gedanken selbst produzieren. Das ständige Kreisen um Selbstbilder, und das Abwägen, ob sich dieses oder
jenes lohne, die permanenten Selbstgespräche, die Selfies des Denkens. Und zum anderen halten uns unsere Ansprüche von der inneren Quelle fern. In deiner Frage taucht das Wort Glück auf – und
dieses Wort ist in den letzten Jahren so dermaßen inflationär benutzt worden, dass wir offenbar völlig das Verhältnis dazu verloren haben. Jeder will glücklich sein, jeder will glücklich wirken
(weil unglücklich sein total out ist und der Karriere schadet), jeder möchte, dass ihm – sorry! – die Sonne aus dem Arsch scheint. Jeder möchte 24 Stunden am Tag ein Feuerwerk der guten Laune und
breit grinsend durch die Gegend laufen. Aber natürlich ist das Leben so nicht, auch wenn uns Werbespots, manche Zeitschriften, B-Promis und oft genug auch die spirituelle Szene das gern
weismachen möchten!
Vor ein paar Jahren hatte ich mal ein Manuskript vorbereitet, in dem es um Zufriedenheit ging. Und der Verlagschef, dem ich das anbot, sagte zu mir: „Zufriedenheit reicht den Leuten nicht. Die
wollen mehr!“ Tragischerweise hat er damit recht. Und deshalb sind so viele Menschen unglücklich. Weil sich ihre Ansprüche, ihre Vorstellungen, wie das Leben erfahren werden sollte, nicht
verwirklichen lassen. Und außerdem kleistern diese Ansprüche den Zugang zu unserer inneren Quelle förmlich zu. Wir suchen das ganz große, rosafarbene Glück mit Glitzersternchen, dessen Intensität
niemals nachlässt, und übersehen dabei das, was uns wirklich zufrieden machen könnte. Was uns inneren Frieden schenken könnte. Da wäre es vielleicht gut, Marc Aurel zu folgen und uns auf unsere
Seele zu besinnen, um herauszufinden, was dieser Seele Ruhe schenkt. In dieser Ruhe kann Zufriedenheit wachsen und uns erfüllen. Das ist unter Umständen weniger spektakulär als das überall
propagierte Glück, hält dafür aber auch länger.
Gibt es aus deiner Sicht und Erfahrung eine Botschaft, die du der Menschheit ans Herz legen würdest?
Ich sehe mich eigentlich nicht in der Position, der Menschheit eine Botschaft ans Herz legen zu können. Doch die Selbsterforschung als Teil einer umfassenderen meditativen Praxis, die insgesamt
zur Gelassenheit und zur Seelenruhe führt, wäre wohl allgemein eine gute Empfehlung. Wenn ein solcher Zugang ein mehr anerkannter und in der Mitte der Gesellschaft verankerter Weg wäre, hätten
wir viel gewonnen. Ich denke, mit dieser Praxis könnte es uns gelingen, die Welt mit neuen Augen zu sehen, wieder mehr über das Wunder des Lebens zu staunen und dafür dankbar zu sein. Diese
Herangehensweise würde uns wieder bewusst machen, dass wir Teil eines großen, das ganze Universum umspannenden Kreises sind – und wir würden vielleicht uns selbst und alle anderen Wesen mehr
schätzen. Das wiederum würde uns möglicherweise davon abhalten, weiterhin unsere eigene Lebensgrundlage und die aller anderen Wesen auf dieser Erde zu zerstören.
Der Sinn des Lebens besteht darin glücklich zu sein. Sagt der Dalai Lama. Und wie werden wir glücklich?
Da musst du wohl den Dalai Lama fragen … 🙂 Obwohl ich ihn sehr schätze, halte ich es, was den Sinn des Lebens angeht, eher mit Robert Louis Stevenson. Der hat nicht nur die besseren
Piratengeschichten geschrieben, sondern auch Folgendes gesagt: „Zu sein, was wir sind, und zu werden, was wir werden können, ist der einzige Sinn des Lebens.“ Darin finde ich die schon genannte
Gelassenheit und ebenso die Bereitschaft, sich zu entwickeln, zu lernen und zu wachsen. Das inkludiert für mich Zufriedenheit und eine weite Sicht auf uns selbst und die Welt.
(Ursprünglich erschienen auf www.spirit-online.de. Noch einmal vielen Dank für eure tollen Fragen!)