Meditierend zum Herz der Welt gelangen
Meditation ist nichts Heiliges, nichts Besonderes, sondern einfach eine Übung, die uns hilft, mehr und mehr genau hier, in dieser Realität anzukommen. Sie sagen, da seien Sie doch schon längst
und hätten es darüber hinaus auch langsam ziemlich satt? Guter Einwand, doch tatsächlich ist es so, dass wir nicht in der Realität leben, sondern in einer Fantasievorstellung, die aus unseren
Theorien und Konzepten besteht. Wir haben eine gefärbte Brille auf, durch die wir alles in genau dieser Farbe wahrnehmen, und das kann entweder rosa sein, sodass wir nichts Schlechtes in der Welt
entdecken können, oder aber dunkelgrau, sodass alles, auch das Gute, das uns widerfährt, düster und bedrohlich wirkt. Dazu gibt es diese Brille natürlich noch in allen möglichen anderen Farben,
die die eine oder andere Wirkung haben. Festhalten kann man auf jeden Fall, dass es kaum einen größeren Kassenschlager gibt, als diese Brille. (Besonders beliebt ist das Modell schwarz-weiß, das
Stammtischpopulisten weltweit bevorzugen.) Wir meinen, wir bräuchten diese Brille, müssten sie Tag und Nacht tragen, alles und jeden dadurch betrachten – und bemerken gar nicht, dass wir die
Brille auch einfach abnehmen können. Wenn wir es dann aber doch probieren, stellen wir fest, dass es noch eine Menge anderer Farben außer der von uns bevorzugten gibt oder der, an die wir uns
gewöhnt haben. Wir sehen die Dinge plötzlich, wie sie sind, entdecken, wie bunt die Welt in Wirklichkeit ist, und merken, dass Vorstellungen deshalb Vorstellungen heißen, weil sie sich vor die
Realität stellen. Und genau dazu dient die Meditation: die Brille unserer Vorstellungen abzunehmen und in das sich entfaltende Sein des Augenblicks einzutauchen, wahrhaft still, frei und
ungetrübt von jeder Art festgefahrener Überzeugungen. Meditation verlässt den vorgezeichneten Weg und führt uns auf eine Entdeckungsreise. Sie lässt uns hinter unsere Vorstellungen blicken,
ändert unseren üblichen Blickwinkel, entfernt den Farbfilter, der uns so lieb und teuer geworden war.
Herz und Geist öffnen
In einem sehr positiven Sinne werden wir leer. Wir kippen all das bereits Gedachte, all das bereits Gesagte, all das immer wieder Durchgekaute, all das vermeintlich als zweifelsfrei richtig
Erkannte, all das angesammelte Alte über Bord, und öffnen unseren Geist für die bloße Wahrnehmung dessen, was gerade geschieht, ganz gleich, was es sein mag.
Vielleicht passiert es in der Meditation zum ersten Mal, dass wir einen Moment unverstellt wahrnehmen. Vielleicht wird es zum ersten Mal in unserem Oberstübchen so leise, dass wir auf die Welt
lauschen können. Wir betreten einen Ort, an dem scheinbar Gegensätzliches sich vereint, um etwas zu vermitteln, das mit den normalen Parametern unserer Logik nicht wirklich zu erfassen ist, das
sich jedem Dualismus verweigert und damit jedes Schwarz-Weiß-Denken unmöglich macht. Das große Sowohl-als-auch.
Es ist, als würde die Meditation unser Herz in Einklang mit dem Rhythmus der Welt bringen. Wir können uns ganz in die Welt einbringen, weil durch die Meditation unsere Augen für die verborgene
Heiligkeit jedes Augenblicks geöffnet wurden. Wir üben auf dem Kissen einen neuen Blick – und lassen dann die formale Meditation zur Meditation der Welt werden. Wir betrachten das Geschehen
anders, wacher, bewusster, mitfühlender.
Meditation öffnet also unser Herz, setzt spontan Energie frei und lässt uns tiefer in das einsinken, worum es letztlich doch geht: Liebe. Wir werden innerlich weiter, und mehr und mehr
Erfahrungen haben in uns Platz. Wir werden offener für all die Schönheiten des Lebens, für all die unterschiedlichen Menschen und anderen Wesen, für alle Widersprüchlichkeiten, für alle
Absurditäten, für all die großen Geheimnisse, die sich in ganz alltäglichen Momenten zeigen, für das Lachen und die Tränen anderer, für die Bruchteile von Sekunden, in denen wir kurz blinzeln und
in unserem die Couch anknabbernden Hund das Göttliche entdecken, für alle Augenblicke, in denen die Welt uns auf eine zärtliche und wundersame Weise berührt.
Das ist die mystische Sichtweise, die durch Meditation immer tiefer wird und uns mehr und mehr erfüllt. In diesem Sinne ist die Meditation ein Sich-Bereitmachen, um mehr lieben zu können.
Ein Raum des Friedens
Der offene, klare Raum, der den Meditierenden gänzlich ausfüllt, ist pure Gegenwärtigkeit. Hier muss man nicht einmal mehr vom Jetzt reden, denn es ist nichts anderes als das Hier und Jetzt
vorhanden, welches jeder Meditierende ungeachtet seiner religiösen Ausrichtung erfahren kann. Keine begriffliche Definition ist mehr vonnöten. Unser Geist fällt buchstäblich ins Nichts, welches
das unendliche Potential des Lebens darstellt. Wie unser Kosmos mit seinen Abermillionen Phänomenen aus dem Nichts hervorgegangen ist, gehen auch wir aus der Erfahrung des Nichts mit neuen Augen
hervor. Wir sind unsere eigene Hebamme und bringen die ursprüngliche Klarheit unseres Geistes zur Welt, machen uns dabei frei von Bezeichnungen und Definitionen und öffnen uns für die
unverstellte Wirklichkeit. Fallen die Konzepte, lösen sich die Unterschiede auf. Das kontemplative Bewusstsein des staunenden Anfänger-Geistes ersetzt die vermeintliche Gewissheit religiöser
Dogmen. Himmel und Hölle, Gläubige und Ungläubige, Würdige und Unwürdige existieren nur außerhalb des namenlosen Raums der Stille. In diesem Raum wird niemand verdammt und niemand
heiliggesprochen – die goldene Harfe kann genauso gut warten wie der rotglühende Dreizack.
In diesem Raum ist Frieden möglich, denn hier zählt nur reines Dasein ohne die Adjektive christlich, muslimisch, buddhistisch, taoistisch, hinduistisch, jüdisch oder naturreligiös. Wir müssen
unser Ego nicht mit irgendeinem Etikett versehen und haben somit nichts zu verlieren und nichts zu verteidigen. Mit unserer Meditation bauen wir eine Brücke zum anderen, den wir ebenso als
menschliches Wesen wie uns selbst wahrnehmen, ohne ihn in irgendeine Schublade unseres religiösen Weltbildes einordnen zu müssen. Wir wissen, dass dieser Mensch vom gleichen Geheimnis des Lebens
durchdrungen ist wie wir, und dass dieses Geheimnis sich jeder Bezeichnung entzieht.
In diesem Bewusstsein kommt uns das namenlose Göttliche so nah, durchdringt uns so sehr, dass wir spüren, wie alles mit uns verwandt ist. Wir spüren das Heilige dann überall - in uns selbst, in
jedem anderen Wesen, in der ganzen Welt. Was könnte unser Leben mehr verändern als das?
(c) Dirk Grosser