Wirklichkeit - Was ich wirklich brauche ...

Die Welt ist voller Theorien. Gerade spirituelle Ideen gibt es wie Sand am Meer – eine Menge Gedanken, über die man sich weitere Gedanken machen kann. Das einzige perpetuum mobile, das wirklich funktioniert. Manchmal, in guten Momenten, wundere ich mich über das, was da durch meinen Kopf trampelt, dabei kaum Raum für anderes, weitaus Wichtigeres zulässt. Ich wundere mich, wie mein Kopf mich vom Wahrnehmen des Gegenwärtigen abhält, mich fern hält vom eigentlichen Leben und vor allem von den Menschen und anderen Lebewesen um mich herum.
Und in ganz guten Momenten, kann ich darüber lachen. Ein Lachen, dass mich zurückbringt zu dem, was ist.
All das, was ist, und was ich wirklich in meinem Leben brauche, hat auf den ersten Blick nicht viel mit Spiritualität zu tun, jedenfalls nicht mit der Art von Spiritualität, die einen eigenen, für sich reservierten Bereich benötigt.
Stattdessen sind es ganz einfache Dinge, echte Dinge, die die Fähigkeit haben, mich ins Leben einzuladen. Ganz einfache Dinge, die mich aus meinem Kopf heraus und in mein Herz hinein bringen…

Was brauche ich also wirklich?
Ich brauche Luft, ein tiefes Ein- und Ausatmen. Ich möchte lieben und geliebt werden, wünsche mir Küsse, die mich bergen und Blicke, die mir ein Gefühl der Zugehörigkeit schenken.
Ich brauche Kinderlachen und berührende Musik, grüne Hügel und den Geruch des nahen Meeres. Ich möchte kaltes Wasser, heißes Wasser spüren, die Sonne auf meiner Haut. Ich möchte sehen, wie die Dinge sind ... und befreit lachen.
Ich möchte gutes Essen mit guten Freunden teilen, möchte ein Feuer am Abend und ein tiefes Gespräch. Ich möchte Sex, der mich mit meiner Partnerin verbindet, eine Umarmung, wenn ich glücklich bin und eine, wenn ich traurig bin. Ich brauche Zeit, um den Wolken zuzusehen und gemeinsame Spaziergänge mit lieben Menschen, mit denen man sich schweigend wohlfühlt.
Ich brauche die Größe des Kosmos, etwas, über das ich staunen kann, Sterne am Himmel und die Geheimnisse der Nacht. Raum für meine Widersprüche, Platz für gegensätzliche Empfindungen zwischen denen mein Herz seinen eigenen Pfad suchen kann.
Jemanden, mit dem ich zur rechten Zeit meine Tränen teilen kann. Menschlichkeit und Rührung. Ruhige Nachmittage mit den Tönen des Regens am Fenster und Tage, die ich mit der Liebe meines Lebens im Bett verbringe.

Ich brauche Gelegenheiten, meine Kreativität zu entdecken und auszuleben, mich auszuprobieren und mich auszudrücken.
Ich brauche ein gutes Buch mit anregenden und herausfordernden Gedanken. Musik, die mich selbstvergessen trägt oder die mich die Bewegung meines Blutes spüren lässt. Inspiration, die mich weckt, meinen Verstand und meinen Körper elektrisiert. Ich brauche Wiesen, Wälder, Berge, Flüsse, Seen und Tiere, die so anders sind als ich – und dennoch so verwandt mit mir. Ich möchte in Augen sehen, hinter denen ein Geist wohnt, der die Welt auf so verblüffend andere Weise als ich wahrnimmt.

Ich möchte die Kraft der Wellen spüren, das Geräusch der Brandung hören und den Wind fühlen, der durch mich hindurch weht. Ich brauche von Zeit zu Zeit das Gefühl, die zivilisatorische Schicht in mir zu zerbrechen, ich brauche etwas Wildes, das zugleich durch die Natur in mich einbricht, wie es auch aus mir herausbricht. Ich muss mich beim Sport verausgaben, meinen Puls rasen lassen, meinen Schweiß strömen lassen. Ich brauche dramatische Wolken und knisternde Blitze, eiskalten Regen, der mich zittern lässt.
Ich brauche ein Leben, das sich seiner selbst nicht schämt und welches das Sein in tiefen Zügen trinkt, sich von ihm ganz und gar durchdringen lässt. Und letztlich – ganz zum Schluss, nachdem alles, soweit es mir möglich war, getan und gesagt wurde - brauche ich einen guten Tod.

Erfahrungen, Dinge, Situationen und Begegnungen sind nicht nur wertvoll, wenn sie eine gewisse Unendlichkeit in sich tragen. Auch unser Universum könnte eines Tages in sich zusammenfallen und in einem schwarzen Loch verschwinden. Dennoch trägt es seinen Wert in sich und benötigt keine Ewigkeit, um diesen zu konstituieren. Ebenso ist unser Leben gestaltet:
Wertvoll in jedem einzelnen, zerbrechlichen, vergänglichen Augenblick unserer Erfahrung.

Kann Spiritualität eine wahre Befreiung bewirken? Kann sie unser Herz öffnen und uns mehr am Leben teilhaben lassen? Ja, wenn sie aufhört spirituell zu sein, wenn sie aufhört, etwas Besonderes sein zu wollen, ein irgendwie heiliger Bereich, getrennt vom Profanen. Das Profane ist heilig, das Heilige ist profan. Samsara ist Nirvana und umgekehrt. Leben ist das Geheimnis. Liebe ist der Weg.
Die wirklich wichtige Frage lautet: Was ist hier? Oder anders gesagt: Was liegt in diesem Moment vor meinen Augen? Genau DAS ist der geheiligte Kosmos in seiner alltäglichen Entfaltung.

(c) Dirk Grosser

Foto: Jörg Urbschat